Reise in die Ukraine
Christoph Fuhrbach, Referent für Weltkirchliche Aufgaben berichtet hier über seine Reise in die Ukraine, die von dem Osteuropa-Hilfswerk Renovabis organisiert wurde:
7.11.
Gestern Abend mit dem Zug zuhause los. In München meinen Mainzer Weltkirche-Kollegen getroffen und mit ihm weiter (im Liegewagen) via Wien und Budapest bis an die ungarisch-ukrainische Grenze gefahren. Nun zum ersten Mal in der Ukraine, in Transkarpatien - in der Stadt Uzgorod. Untergebracht im hiesigen Priesterseminar - mit vielen (Ehe-)Frauen und kleinen Kindern teilweise ganz anders als bei uns.
Die übrigen KollegInnen, die mit dem Flugzeug anreisen wollten, sind wegen des Streiks heute nur bis München gekommen und werden erst morgen in die Ukraine kommen.
Ich freue mich sehr auf die kommenden 9 Tage in verschiedenen Landesteilen dieses großen Landes. Wir werden viele und ganz unterschiedliche Menschen treffen und vielfältige Eindrücke sammeln können.
8.11.
Unsere Zeit in Transkarpatien (im Südwesten der heutigen Ukraine) ist schon wieder abgelaufen. Gedanken, die mich nach unseren dortigen Begegnungen noch beschäftigen: es handelt sich um eine recht isolierte Region, denn sie ist von Bergen (Karpaten) bzw. EU-Außengrenzen (Slowakei, Ungarn, Rumänien; ein Grenzübertritt dauert im Schnitt 4 Stunden!) umgeben. Viele ziehen weg, besonders seit es nun ein EU-Touristenvisum für Ukrainer gibt. Die Zurückgebliebenen fühlen sich teilweise verlassen. In den letzten 100 Jahren herrschten hier 5 (!) verschiedene Staaten, besonders prägend waren Ungarn, die Sowjetunion und nun die Ukraine. Die Identität ist dadurch nicht an einen heutigen Nationalstaat gebunden, mehrfach fällt das Wort 'Wir sind Lokalpatrioten'. Eine multiethnische Region. Mit einer immer stärker wachsenden Roma-Minderheit, die am Rande der Gesellschaft lebt. Die Kirchen scheinen sich langsam den Roma anzunehmen. Auch das kirchliche Leben ist sehr vielschichtig, mit unterschiedlichen Konfessionen, die gerade in den letzten Jahrzehnten auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. So war z.B. die griechisch-katholische Kirche von 1949 bis 1991 verboten. All ihre Gebäude wurden verstaatlicht, sie konnte nur noch im Untergrund agieren.
Inzwischen sind wir in Lviv/Lemberg, nun ist unsere Reisegruppe vollzählig (8 Personen aus 6 Diözesen sowie dem Renovabis-Länderreferenten für die Ukraine).
9.11.
Inzwischen schon seit eineinhalb Tagen in Lviv/Lemberg in der Region Galizien im Westen der Ukraine. Hier ist sozusagen das 'Stammland' der Griechisch Katholischen Kirche der Ukraine. Das Besondere dieser Kirche ist, dass sie dem östlichen (orthodoxen) Ritus nahe steht, sich aber seit der Kirchenunion von Brest 1596 mit Rom (der römisch-katholischen Kirche) verbunden hat.
Wir erfahren viel über die sehr wechselvolle Geschichte Galiziens, bei der unter anderem Polen, Österreich-Ungarn und die Sowjetunion zentrale Rollen gespielt haben. Gerade im 20. Jahrhundert gab es hier sehr viel Leid, Vertreibungen, Fremdherrschaft.
Wir besuchen Einrichtungen der Salesianer für Kinder und Jugendliche in schweren Lebenssituationen (Waisenhaus, Ausbildungszentrum, Wohnheim). Auch der Patriachalkurie (bei uns würde das etwa der Bischofskonferenz entsprechen) statten wir einen Besuch ab und hören von deren Strukturen und Aufgabenfeldern. Nicht zuletzt fahren wir zur Ukrainisch Katholischen Universität, die ein Solitär in postkommunistischen Staaten zu sein scheint: westlich orientiert. Transparenz wird groß geschrieben und sogar in der Architektur der Büros und Seminarräume erkennbar. Korruption wird verurteilt. Die Auswahl der Studierenden erfolgt aktuell noch ausschließlich über das Kriterium der Leistung. Insofern ist die 2002 gegründete Uni eine Eliteeinrichtung. Mit dem klaren Ziel, den künftig im Land einflussreichen Personen ein christliches Wertekonzept auf ihren Weg mit zu geben. Gemeinschaft in Studierendenwohnheimen und soziale Praktika sind ein paar der Bausteine auf diesem Weg. Die Finanzierung läuft über Studiengebühren und ein sehr umfangreiches Fundraising.
10.11.
Interessante Jesus-Darstellung auf der Kuppel einer Kirche im polnischen Viertel von Lviv/Lemberg: in Anspielung auf die dramatische Situation im Garten Gethsemani kurz vor seinem schweren Leiden scheint mir Jesus bei dieser Darstellung auf die Menschen zu blicken und zu fragen 'Was tut Ihr nur?'
Weitere Einblicke in die nahe beieinander liegenden Viertel der Juden und Ukrainer beeindrucken mich. Das jüdische Leben, wie es bis im 20. Jahrhundert prägend für die Stadt war, wurde komplett gelöscht. Die Traditionen der unterschiedlichen Konfessionen werden gerade am Sonntag noch sehr deutlich, wie wir bei den vielen, jeweils noch sehr gut besuchten, Gottesdiensten erfahren. In der vollen lateinischen Kathedrale muss ich zum ersten Mal seit vielen Jahren mal wieder in einem Gottesdienst stehen, weil es keinen einzigen freien Sitzplatz mehr gibt. Diese starke Volksfrömmigkeit verwundert mich gerade angesichts der jahrzehntelangen Unterdrückung der Kirchen. Am Nachmittag noch ein Gespräch mit VertreterInnen eines erst vor vier Jahren gegründeten Zusammenschlusses aller griechisch-katholischen und lateinischen (römisch-katholischen) Frauen- und Männer-Ordensgemeinschaften. Mich beeindruckt, wie sie versuchen, gemeinsam auf verschiedene gesellschaftliche Herausforderungen Antworten zu suchen und dann auch zu geben.
11.11.
Am Morgen historisch-politischer Stadtrundgang durch Kyiv/Kiew, u.a. zum Maidan und zur Sophienkathedrale.
Anschließend viele Gespräche, u.a. mit 5 Bischöfen, sowohl von römisch-katholischer wie auch griechisch- katholischer Kirche. Themen sind u.a. deren Sichtweisen zu den gesellschaftlichen Herausforderungen wie auch ihre Planungen bis 2025.
Am Abend ein sehr spannendes (Streit-)Gespräch mit Wissenschaftlern und EU-Beamten über die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation in der Ukraine. Es geht um Einschätzungen zum neuen Präsidenten, um die Kriegssituation im Osten des Landes, natürlich auch um das Verhältnis zu Russland. Einig sind sich die Diskutanten, dass den Menschen in der Ukraine klar geworden ist, dass in ihnen selbst großes Entwicklungspotential liegt und dass aufgrund dieser Erkenntnis bereits ein Mentalitätswandel im Gange ist. Ob eine Perspektive für einen zeitnahen EU-Beitritt eine Lösung sein könnte, wird unterschiedlich beurteilt. Danke an Renovabis wie an deren Partner in der Ukraine für die prima Reiseplanung!
12.11.
Bewegender Tag: zunächst ein Gespräch mit einem orthodoxen Erzbischof über die innerorthodoxe Ökumene in der Ukraine.
Danach Informationen vom Präsidenten der Caritas Ukraine, Andrij Waskowycz. Es geht um ,(Arbeits-)Migration, um Gesundheitsvorsorge sowie Kinder- und Jugendhilfe. Einerseits praktisch, andererseits systemisch. Beeindruckend!
Anschließend gehen wir auf den Maidan, wo 2004 die "Orangene Revolution" und 2013/14 die "Revolution der Würde" stattfand. Wir hören von den über drei Monaten sich hinziehenden (Massen-)Demonstrationen, von dem riesigen Einsatz so vieler Menschen trotz Gefahren - aber auch von den von der Regierung angeordneten Erschießungen durch Scharfschützen. Das bewegt mich sehr.
Mich begeistert, dass die Demonstrierenden es immer geschafft haben, ausschließlich gewaltfrei zu handeln. Unglaublich beeindruckend ist für mich, zu erfahren, was in vielen Demonstrierenden vorging: bei großer Kälte und immer wieder unter reeller Gefahr entwickelten sie eine riesige Solidarität untereinander. Wenn etwas gebraucht wurde (z.B. Lebensmittel), wurde das in den sozialen Medien mitgeteilt - und kurz darauf war es da. Den staatlichen Repressionen wurde kreativ getrotzt. Das sehr präsente Gemeinschaftsgefühl und die Idee, Großes erreichen zu können, beflügelte die beteiligten Menschen, ließ sie auf dem Maidan alle Angst vergessen. Diese Erfahrungen haben die Maidan-Aktiven gestärkt und motivieren sie, ihren Visionen und Zielen treu zu bleiben, sich immer wieder für sie einzusetzen. Sie haben gespürt,was sie bewegen können. Diesen Weg wollen sie fortsetzen.
Angetan bin ich davon, dass immer viele Kirchenleute unter den Demonstrierenden dabei waren, dass es immer wieder Gottesdienste auf dem Maidan gab - als ein Baustein eines wahrhaft bunten Potpourris. Nach einem Gottesdienst folgte zB Rockmusik, auf dem Maidan etablierte sich ein 24-Stunden-Programm. Aber auch große praktische Hilfe leisteten die Pfarrer allen Maidan-Aktiven.
Ich spüre, wie mir diese starken Geschichten vom Maidan Kraft, Hoffnung und Inspiration geben. Danke Andrij Waskowycz, für das Teilen all dieser Erfahrungen sowie der spannenden Reflexionen über den Maidan! Das war sehr bereichernd für mich!
Das folgende Gespräch in der deutschen Botschaft mit der neuen Botschafterin Anka Feldhausen verläuft in angenehmer und vergleichsweise offener Atmosphäre.
13.11.
Am Morgen bei der Caritas Kharkiv. Sie wird erst seit 5 Jahren aufgebaut und hat sich in dieser Zeit schon zu einem vielfältigen Dienstleister entwickelt, an den Nöten der Menschen in der Region orientiert. Vielfältige Maßnahmen für die in die Stadt geflohenen rund 200.000 Binnenflüchtlinge, Rechtsberatung, ein Kinder- und Jugendzentrum und Manches mehr gibt es hier. Mir persönlich gefällt sehr gut die Arbeit mit jungen Menschen mit Down-Syndrom, u.a. lernen sie hier Gemüse anzubauen sowie gesunde Ernährung. Insgesamt ist die Caritas dabei, mit sozialen Projektideen auch Geld zu verdienen, um ihre soziale Arbeit, die vom Staat finanziell nicht gefördert wird, auf sichere Beine zu stellen. Hier ist Kreativität gefragt. Viele Ideen, von Weinbergsschneckenzucht bis Öko-Tourismus, sind bereits in der Pipeline.
In der Kleinstadt Izium erfahren wir von den Initiativen eines kleinen Zentrums mit nur einer Mitarbeiterin. Aktionen mit Jugendlichen und ihrem Umfeld stehen dabei im Mittelpunkt.
Das Abendessen nehmen wir bei einer Familie am Stadtrand von Kramstorsk ein. Der Gastgeber, ein Priester der griechisch-katholischen Kirche, entpuppt sich als eine schillernde Figur. Auch heute hat er noch viele Aufgaben: Caritas-Direktor in Kramstorsk, Pfarrer in sechs Pfarreien und Seelsorger beim Militär in der nur gut 30km entfernten Pufferzone.
Nebenbei wird mir auch bewusst, dass der Osten der Ukraine viel weniger christlich ist als der Westen. Das gilt selbst für die Orthodoxen. Die katholischen Kirchen haben ganz wenige Mitglieder, wobei sie jetzt auch erst wieder richtig aufgebaut werden. Die Caritas-Arbeit ist in diesem Kontext besonders wichtig
14.11.
Besuch in der Pufferzone (Donbass/Ukraine). Zunächst bei der Caritas Kramstorsk: dort gibt es Kinderbetreuung, Kleiderleihgaben, (auch psychologische) sowie Arbeit mit Binnenflüchtlingen. Leider hat die Caritas auch hier starke Finanzierungsprobleme, denn die Programme sind meist auf maximal drei Jahre begrenzt. Dadurch entsteht die Notwendigkeit, selbst Einkommen schaffende Maßnahmen zu entwickeln. Herausfordernd für eine soziale Institution. Neben 74 Haupt- arbeiten 130 Ehrenamtliche hier.
Abstecher in ein staatliches Forschungs- und Lehrklinikum. Wir werden groß empfangen, von sehr viel Personal. Behandlung von Traumata ist eine zentrale Aufgabe und wird auf vielfältige Weise durchgeführt.
Weiter in die Pufferzone. Auf den ersten Blick scheint hier alles recht "normal" zu sein. Kaum Einschüsse zu sehen. Das Alltagsleben geht weiter. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass Viele weggezogen sind und dass diejenigen, die noch hier leben, sich zurück gelassen fühlen. In Gesprächen wird spürbar, dass die Perspektiven für die Region bescheiden zu sein scheinen: eine Lage, die als Sackgasse wahrgenommen wird ("Zonenrandlage"), kaum Arbeitsplätze, hauptsächlich alte Menschen, kriegsähnliche Situation mit bereits 13.000 Toten, das Gefühl abgehängt und vergessen zu sein. Mehrfach wird uns gedankt, dass wir sie besuchen.
Besuch einer Dorfschule. Herzliche Begrüßung. Die Caritas ist hier mit einem Projekt engagiert. Wir dürfen in einer Klasse mit dabei sein. Wir werden sogar in die Stunde voll mit einbezogen. Es geht um "Emotionen" und einen guten Umgang mit den verschiedenen Emotionen. Für mich eine beeindruckende Stunde. Anschließend Austausch über die hiesige Alltagslebenssituation. Beeindruckend die Schilderung einer Frau, wie sie den Kontakt zu einer Freundin von ihr auf der anderen Seite der "Kontaktlinie" hält - via Telefon und soziale Medien.
Bereichert fahren wir zurück nach Kharkiv.
15./16.11.
Die Heimreise aus Kharkiv im Osten der Ukraine verläuft anders als geplant: anstatt von Lviv über Budapest/Wien reisen wir nun via Krakau und Berlin. Hintergrund ist, dass wir heute morgen trotz gültiger Tickets den Zutritt zum Zug in Lviv verwehrt bekamen. Die diversen SchaffnerInnen auf der einen sowie mein Mainzer Kollege und ich auf der anderen Seite konnten uns verbal nicht verständigen, da wir kein Ukrainisch verstehen und unsere Gegenüber kein Englisch. Erst später erfuhren wir das Problem: wir hatten keine Sitzplatzreservierung. Und ohne eine solche Sitzplatzreservierung gibt es keinen Zutritt in den D-Zug...
Erst waren wir konsterniert und enttäuscht. Danach haben wir aber etliche freundliche und hilfsbereite Menschen getroffen. Und nun sind wir in einer richtig schönen und auch geschichtlich interessanten Stadt an der polnisch-ukrainischen Grenze gelandet: Przemysl. Wir konnten noch einen wunderbaren Stadtrundgang in der Abenddämmerung unternehmen. Hat Lust auf mehr von dieser Region gemacht. So bin ich dankbar, dass wir heute früh nicht im Zug mitfahren durften, weil ich nun noch Neues, Interessantes kennen lernen durfte. Schön. Nach einer Pizza geht es dann im Nachtzug nach Berlin und morgen Nachmittag werde ich dann wieder die Pfalz erreichen. Bereichert von vielen interessanten Eindrücken einer spannenden Ukraine-Reise!