Montag, 06. Februar 2023

„Druck aufbauen, damit sich Dinge ändern“

Beate Schmitt, Leiterin Caritas-Zentrum Kaiserslautern, Hans Sander, Mitglied der Armutskonferenz Rheinland-Pfalz, Robin Rothe, Leiter Lichtblick Neustadt, Markus Carbon, Regionalstellen Leiter im Diakonischen Werk der Pfalz, Joachim Speicher, Abteilungsleiter im rheinland-pfälzischen Sozialministerium (v.r.n.l.) 

„Frauen wagen Frieden“ lud mit dem FB Arbeitswelt zum Studientag „Armut in Deutschland“ ein

Bad Dürkheim. Den Niedriglohnsektor austrocknen, höhere Renten und höheres Bürgergeld, ein gerechteres Steuersystem, gleiche Bildungschancen für alle. Viele Vorschläge hatten die Experten parat, die am Samstag auf Einladung der Gruppe „Frauen wagen Frieden“ der Evangelischen Kirche im Martin-Butzer-Haus, Bad Dürkheim, zum Thema „Armut in Deutschland“ sprachen.

Markus Carbon, Regionalstellenleiter West im Diakonischen Werk Pfalz, machte in seinem Beitrag die Klimakrise, die schlechte Ernten bedingt und ganze Landstriche vertrocknen lässt, oder Monokulturen, die nicht dauerhaft funktionieren, als Ursachen für die globale Armut aus. Die Folgen: die Preise für Lebensmittel steigen massiv – „auch bei uns“. Hinzu kommen politische Krisen oder Bürgerkriege wie im Südsudan. Carbon: „Dort herrscht existenzielle Armut – das Land kann seine Bevölkerung ohne fremde Hilfe nicht mehr ernähren“.

Welche Strukturen Armut auch in Deutschland auslösen können, zeigte Carbon am Beispiel Pirmasens auf. Die Schuhindustrie, für die Pirmasens einst stand, wanderte in Länder ab, die billiger produzieren; zunächst auf den Balkan, dann nach Asien. Die Menschen, die einst hier in Lohn und Brot waren, verloren ihre Arbeit. Die Industriellen indes sitzen immer noch in Pirmasens, streichen die Gewinne ein. Ein Grund, weshalb die Stadt Pirmasens einerseits arm, andererseits einen hohen Anteil an Millionären aufweist. Für Carbon gleichzeitig ein Indiz, frühzeitig Technologiewenden anzugehen, wenn sich – wie jetzt auch - Veränderungen in der Industrie andeuten.

Als eine weitere „arme Stadt“ bezeichnete Beate Schmitt Kaiserslautern. Die Leiterin des dortigen Caritas-Zentrums wies darauf hin, dass „die Kommune nur für das Notwendigste aufkommt“. Selbst Stellen würden über geraume Zeit aus Spargründen nicht besetzt. Und so würden die Anlaufstellen der Caritas immer stärker in Anspruch genommen. Im vergangenen Jahr wurden „3563 Beratungsfälle“ – die meisten kämen aber nicht nur einmal – registriert. Festgestellt hat Schmitt, dass stetig mehr Menschen die Schuldner- und Insolvenzberatung in Anspruch nehmen, nicht zuletzt weil Energie- und Mietkosten das Haushaltsbudget weit übersteigen.

Anders als in den 1990er- und Nullerjahren würden die Hilfe der Caritas jetzt wieder verstärkt nachgefragt. Auch die Zahl der Mittagessen, die täglich im St. Christophorus-Haus oder in der Glockestubb ausgegeben werden, steige an, sagte Schmitt.

Rund 200 Haushalte, das entspricht etwa 500 Personen, versorgt die Tafel in Bad Dürkheim. Tendenz ebenfalls steigend. Seit Sommer 2022 „haben wir einen Aufnahmestopp“, bekannte Werner Grill, Vorsitzender der Tafel. Als Gründe nannte er, dass die Kapazität der knapp 70 Ehrenamtlichen erschöpft sei, aber auch die der Lebensmittel. Diese bezieht die Tafel von 23 Geschäften in und um Bad Dürkheim sowie über den Tafel-Verbund. Dank der finanziellen Zuwendungen könnten an die Bedürftigen auch Gutscheine für Supermärkte ausgegeben werden.

Obdach- und Wohnungslose, Bezieher von Grundsicherung oder Bürgergeld, Menschen, die in irgendeiner Form von Armut betroffen sind, sind im Lichtblick in Neustadt willkommen. Dort können sie frühstücken und zu Mittag essen, können duschen, ihre Wäsche waschen, Lebensmittel, Kleider, Hausrat und Möbel erhalten. Selbst Postadressen stellt Lichtblick zur Verfügung. Wie viele Menschen den Lichtblick aufsuchen, vermochte Leiter Robin Rothe nicht zu sagen. „Wir registrieren die Menschen nicht, wir pflegen ein offenes Haus.“ Unter dem Titel „Projekt Celsius 2022 – Raum gegen soziale Kälte“ werde derzeit eine neue Wärmestube geplant.

Die beim Protestantischen Dekanat der Stadt angesiedelte Einrichtung wird laut Rothe maßgeblich über Spenden finanziert.

„Pflasterstube“ nennt die Pfarrei Hl. Martin, Kaiserslautern, ihre Anlaufstelle im Pfarrheim. Dort können sich Wohnungs- und Obdachlose einmal im Monat mit einem warmen Essen versorgen. Gleichzeitig sind neben einer Frisörin Ärzte vor Ort, die die Menschen kostenlos behandeln. Darüber hinaus „kümmern wir uns um Leute, die keine Krankenversicherung haben, fahren sie zu Fachärzten oder ins Krankenhaus“, berichtete Pfarrer Andreas Keller, der die Pflasterstube 2010 gründete. Knapp 30 Ehrenamtliche unterstützen die Einrichtung, die sich ebenfalls dank Spenden trägt. Schlafsäcke, Decken oder auch ein Wintermantel besorge die Pfarrei ebenfalls. „Eine Kleiderkammer können wir jedoch nicht anbieten.“ Keller ist wichtig, dass sich die Kirchen wieder auf ihre diakonischen Aufgaben konzentrieren, „Seelsorge statt Zählsorge“ betreiben.

Bei der Podiumsdiskussion am Nachmittag, die Pfarrerin Claudia Kettering, Referentin der Evangelischen Frauenarbeit, moderierte, kritisierten Schmitt, Carbon und Hans Sander, Mitglied der Landesarmutskonferenz Rheinland-Pfalz, die Hürden beim Bezug von Sozialleistungen. Vor allem die unverständlichen und aufgeblähten Formulare. Allein der Antrag auf Wohngeld umfasse 80 Seiten, wusste Carbon. Selbst die Mitarbeiter der Verwaltung seien oft überfordert. Sander plädierte dafür, „unabhängige Beratungsstellen in Jobcentern für die Betroffenen einzurichten“.

Mit „Orten des Zusammenhalts“ will die Landesregierung Treffpunkte einrichten, wo Menschen zusammenkommen, sich gegenseitig helfen und unterstützen, führte Joachim Speicher, Abteilungsleiter im rheinland-pfälzischen Sozialministerium, aus. Alle, die Hilfe bräuchten oder einsam seien, Jüngere und Ältere seien willkommen.

Dass auch die Haltung der Gesellschaft sich ändern müsse, mahnte Beate Schmitt an. Armut sei heute – anders als früher – schambesetzt. Arme fühlten sich regelrecht stigmatisiert. Eine Erfahrung, die Robin Rothe teilte. „Wir alle müssen genügend Druck aufbauen, damit sich Dinge ändern“, riet am Ende Joachim Speicher.

Die Veranstaltung „Frauen wagen Frieden“ wurde mitgetragen von der Evangelischen Arbeitsstelle Bildung und Gesellschaft sowie vom Fachbereich Arbeitswelt im Bistum Speyer.

Foto: rwi