Dienstag, 29. Juni 2021
„Neue Straftatbestände, größere Verbindlichkeit, mehr Klarheit“
Offizial Dr. Georg Müller im Gespräch über die Reform des kirchlichen Strafrechts
Speyer. Der Vatikan hat das kirchliche Strafrecht reformiert. Der Offizial des Bistums Speyer Dr. Georg Müller erklärt im Gespräch die neuen Regeln und die Bedeutung des Strafrechts für das kirchliche Leben.
In den Medienberichten über das neue Strafrecht wurden vor allem die strengeren Regeln zu sexuellem Missbrauch herausgestellt. Was ändert sich hier konkret?
Georg Müller: Im bisherigen Strafrecht wurde sehr viel mit „Kann-Bestimmungen“ gearbeitet, die alle in „Soll-Bestimmungen“ verwandelt wurden. Verteidigungsrecht und Verjährung der Strafklagen wurden verändert. Gleichzeitig gibt es einen ausführlicheren Katalog und eine bessere Umschreibung der Strafen. Die Rechtsanwender können auf der einen Seite also nicht mehr entscheiden, ob zu strafen ist, aber sie gewinnen auch Entscheidungssicherheit. Regelungen aus Sondergesetzen wurden in das gesamtkirchliche Gesetzbuch übernommen. Kurz gefasst: Neue Straftatbestände, größere Verbindlichkeit, mehr Klarheit bei der Anwendung.
Manche haben überrascht zur Kenntnis genommen, dass es in der Kirche überhaupt ein eigenes Strafrecht gibt. Welche Bereiche sind außer dem sexuellen Missbrauch durch das kirchliche Strafrecht noch geregelt?
Georg Müller: Für den ganzen Codex von 1983 gilt, dass er in einer Zeit verfasst wurde, die dem Recht in der Kirche allgemein und insbesondere dem Strafrecht nicht sehr wohlgesonnen gegenüberstand. Braucht die Kirche Jesu ein Recht? Soll sie überhaupt strafen? Papst Franziskus hat jetzt unterstrichen, dass die Anwendung des Strafrechts auch zum Hirtendienst der Kirche gehört, um „größerem Übel zuvorzukommen und die durch menschliche Schwäche geschlagenen Wunden zu heilen“.
Alles aufzuzählen würde zu weit führen. Bereiche sind unter anderem die Glaubenseinheit (Häresie, Schisma), Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen oder Verstöße gegen besondere Verpflichtungen, die etwa aus der Weihe resultieren. Auch Bereiche wie die Sakramente können eine strafrechtliche Seite haben, zum Beispiel bei Verunehrung der Eucharistie.
Welche Rolle spielt das kirchliche Strafrecht im praktischen Leben der Diözese? Wie häufig werden beim Kirchengericht der Diözese Strafprozesse geführt?
Georg Müller: Im Leben einer Diözese und gerade auch im Vergleich zu den Ehenichtigkeitsverfahren spielt es eine sehr untergeordnete Rolle. In den letzten Jahrzehnten wurden so gut wie gar keine Strafprozesse geführt. Durch die Missbrauchsdebatte ist das wieder mehr in den Fokus geraten. In vielen Fällen wurden in der Diözese getroffene Maßnahmen durch die Glaubenskongregation bestätigt, es wurden nicht nochmals eigene Strafprozesse angeordnet. Das kann jetzt natürlich mehr werden. Disziplinarische Maßnahmen oder beispielsweisen Geldbußen sind zwar auch ohne Strafprozess möglich. Aber das Ganze ist jetzt im Strafrecht verankert.
Wie verhält sich das kirchliche Strafrecht gegenüber dem staatlichen Strafrecht? Ersetzt das eine das andere? Oder kommt das kirchliche Strafrecht für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter quasi „noch oben drauf“?
Georg Müller: Nein, es sind zwei unabhängige Rechtsbereiche, die sich gegenseitig weder beeinträchtigen noch ersetzen. Eine kirchliche Voruntersuchung oder ein Strafprozess ersetzen nicht die Staatsanwaltschaft. Wenn etwas in beiden Rechtsordnungen ein Straftatbestand ist, wird es in beiden verfolgt. Aber für manche Fälle interessiert sich der Staat natürlich nicht, zum Beispiel wenn nur Fragen des Glaubens berührt werden. Und wir dürfen uns mit dem Verweis auf das staatliche Handeln auch nicht herausreden: Es gibt ja gerade beim Missbrauch Fälle, in denen die staatliche Strafverfolgung wegen Verjährung eingestellt wird, aber die Beschuldigten noch leben. Da müssen wir als Kirche trotzdem handeln, und es muss hier eine Untersuchung und Konsequenzen geben.
Durch wen wird ein kirchlicher Strafprozess in Gang gesetzt? Kann man ähnlich wie im staatlichen Recht einfach Anzeige erstatten?
Georg Müller: Anzeigen sind möglich und gehen bei verschiedenen Stellen ein. Opfer von Missbrauch etwa melden sich oft zuerst bei den Ansprechpartnern der Diözesen. Manche Sache ist Rom vorbehalten, von dort kann aber auch ein Strafverfahren vor Ort angeordnet werden. In einer Diözese ist immer der Bischof als Inhaber auch der Judikative derjenige, der ein Verfahren in Gang setzt. Dafür hat er aber dann natürlich ausführende Organe in Person des Offizials als Vikar des Bischofs im Gerichts- und kirchlichen Rechtsbereich. Schon länger wird auch über die Einrichtung überdiözesaner Strafgerichtshöfe debattiert.
Wie bewerten Sie die jetzt vorstellte Reform des kirchlichen Strafrechts? Sind damit alle Fragen zur Zufriedenheit gelöst? Sehen Sie Veränderungsbedarfe, die über die jetzige Reform hinausgehen?
Georg Müller: Alles ist damit sicher nicht gelöst. Die Frage etwa nach der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist schon lange ein Thema und auch die Frage danach, wie sich Handeln und Entscheidung in der rechtlichen Übernahme von Verantwortung spiegeln. Eine absolut aktuelle Debatte. Trotzdem ist die vorgestellte Reform rechtlich sehr zu begrüßen und auch im Handeln der Kirche ein eindeutiger Schritt nach vorn. Wichtig ist, dass die Normen jetzt auch konsequent angewandt werden.
Die Strafe und das Strafen sind Themen, die in den Ohren vieler Menschen heute keinen besonders guten Klang haben. Wie stehen Sie persönlich dazu?
Georg Müller: Unsere Willensentscheidung und unser menschliches Handeln in Freiheit haben Konsequenzen, im Guten wie im Bösen. Daher muss auch die Strafe einen Platz haben. Stellen Sie sich vor, wir könnten Taten wie etwa den Missbrauch überhaupt nicht bestrafen. Ich bin überzeugt davon, dass das wichtig ist, und, mit den Worten des Papstes, zur „Wiederherstellung der Erfordernisse der Gerechtigkeit“ beiträgt.
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