Montag, 27. Mai 2019
„Für eine Europäische Union, die den Menschen dient“

Miteinander im Gespräch: Der Abgeordnete des Europäischen Parlamentes, Michael Detjen, Moderator Matthias Donauer und P. Friedhelm Hengsbach SJ
P. Friedhelm Hengsbach analysiert die Situation der Europäischen Union und entwirft die Vision einer „solidarischen national-europäischen Doppeldemokratie“ – Referat vor Führungskräften des Kolpingwerkes in Ludwigshafen
Kaiserslautern/Ludwigshafen. „Was ist los mit dir, Europa?“ Papst Franziskus hat diese Frage den Repräsentanten der Europäischen Union vor drei Jahren in Rom gestellt, als ihm der Karlspreis der Stadt Aachen verliehen wurde. P. Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ (Ludwigshafen) griff sie in seinem Vortrag vor der Diözesanversammlung des Kolpingwerkes im Pfarrzentrum St. Albert, Ludwigshafen-Pfingstweide, auf und fügte eine weitere Frage hinzu: „Zerfasert die EU im Gerangel der Nationen?“
In seiner Einführung zu Vortrag und Podiumsgespräch wies der stellv. Diözesanvorsitzende des Kolpingwerkes, Matthias Donauer (Kindsbach), daraufhin, dass die politische Ordnung Europas, deren Kern die Europäische Union ist, von vielen Menschen nicht mehr fraglos hingenommen, die Union unter vielen Aspekten kritisiert werde und ein starker Trend zur Renationalisierung erkennbar sei, auch in Deutschland. Die Europäische Union sei ein einzigartiges politisches Projekt, das als Friedensprojekt gegründet worden sei und wirklich Freiheit und Frieden gebracht habe, nach 1989 auch den Völkern im Osten. Diese Errungenschaften gelte es zu verteidigen.
P. Hengsbach setzte bei der aktuellen Wahl zum Europäischen Parlament an, das aus einer relativ unbedeutenden Rolle herausgewachsen und seit einigen Jahren mehr und mehr in die Entscheidungsprozesse der politischen Organe der Union einbezogen worden sei. In den Rang einer souveränen Repräsentanz der Bürgerinnen und Bürger von Nationalstaaten und zugleich europäischen Bürgerinnen und Bürgern sei es indessen immer noch nicht gerückt. P. Hengsbach lehnte die Auffassung von einer „Schicksalswahl“ ab. Es gehe nicht um Krieg und Frieden. Die Parlamentswahl bedrohe nicht die Existenz der christlichen oder gar der modernen Zivilisation.
Um die EU zu verstehen, müsse man durch das „Gestrüpp des europäischen Alltags“. Der Referent zog einen weiten Bogen vom Brexit über die „gelben Westen“, vom Nord-Süd-Konflikt in der Union über die West-Ost-Entfremdung bis zu den „blutigen Grenzen“, mit denen sich Europa „schütze“ vor der Migration v.a. aus Afrika. Er kritisierte das „marktradikale Erbe“ der EU, die Auffassung, der Markt sei die Grundform menschlicher Beziehungen, dabei sei der Markt ein „Machtgeschehen“. Er kritisierte weiter den Vorrang der Geldsphäre vor der Realwirtschaft und die fehlkonstruierte Währungsunion. Die Aussage der Bundeskanzlerin, dass die EU keine Sozialunion sei, werde durch eine Lektüre der europäischen Verträge widerlegt, in denen die Solidarität der Mitgliedsländer und die Angleichung der Lebensverhältnisse in den unterschiedlichen Regionen als Ziel formuliert ist. Nachdrücklich setzte sich P. Hengsbach für die Verwirklichung einer europäischen Sozialunion ein. Mit der Europäischen Säule sozialer Rechte 2017 sei durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten bereits eine Vision formuliert worden. Auch die deutsch-französische Achse sei brüchig geworden. Es bildeten sich gegen eine deutsch-französische Hegemonie Anti-Koalitionen peripherer Ländergruppen.
Der aktuelle Wahlkampf sei vergiftet durch ein überzogenes Lagerdenken. Pro-Europäer kämpften gegen Anti-Europäer, Liberale gegen Autoritäre, die Parteienkonstellation links oder rechts von der Mitte attackiere Populisten, Nationalisten und Rechtsextreme. Verfeindete Gruppen stimmten in das Kampfgeschrei ein: „Wir, und wir allein“ gegen „Euch, die Fremden“. Feindliche Sprachspiele erzeugten dogmatische Erstarrung. Sie verhinderten, gelöst alternative Zielsetzungen zu erwägen und auf die Anliegen der Gegner hinzuhören - wenigstens auf den Kern dessen, worin sie Recht haben. Ebenso wenig könne der Versuch, fremde Argumente anzuhören und zu erwägen, ohne ein erhebliches Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik gelingen. Zumal die so genannten demokratischen Parteien selbst Bestandteil jener Verhältnisse sind, in die sie die Anderen am Rand, die ihnen fremd vorkommen, hineingedrängt haben. Offenbar, so der Referent weiter, habe der Drang der ehemaligen Volksparteien in die Mitte und die Tendenz, ihre Parolen einander anzugleichen, zu den sozialen und kulturellen Rissen geführt und zum Zerfasern der Gesellschaft beigetragen. „Für die Bürgerinnen und Bürger, die wählen gehen, geht es nicht um Krieg oder Frieden, nicht um Bleiben oder Austreten aus der EU, sondern um eine andere Union, die den Menschen dient, Wirtschaft und Gesellschaft in die natürliche Umwelt einbindet“, sagte P. Hengsbach wörtlich.
Gemäß einer Studie, die auf repräsentativen Umfragen in 14 Mitgliedsländern beruht, sehe eine Mehrheit der Befragten zwischen der eigenen nationalen Identität und ihrem Selbstverständnis als europäischen Bürgerinnen und Bürgern keinen Gegensatz. Nur ein Viertel sehe ihre nationale Identität als vorzugswürdig an. Nicht nur die europäischen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die so genannten Populisten und Nationalisten wollten keine Zerschlagung der EU. Sie forderten eine andere Organisation und veränderte Institutionen. Extreme parteipolitische Richtungen unterschieden sich darin, dass die einen sich dagegen sträubten, Kompetenzen zentral zu bündeln und nationale Parlamente intensiver zu kontrollieren, während die anderen eine Art Vereinigte Staaten von Europa im Sinn einer europäischen Republik herbeisehnten.
P. Prof. Dr. Hensbach skizzierte einen „Neustart der EU“: Die Wahlen zum europäischen Parlament sollten auf längere Sicht hin dazu beitragen, dass der Schlamassel zweier Verfahren aufgelöst werde, der die Entscheidungsprozesse der EU durchkreuzt und häufig blockiert. Die von Angela Merkel formulierte „Gemeinschaftsmethode“, nämlich die ordentliche Gesetzgebung unter Beteiligung von Kommission, EU-Parlament und Ministerrat konkurriere mit der „Unionsmethode“, den einstimmigen Beschlüssen des Europäischen Rates, der zwar über keine Gesetzgebungskompetenz verfüge, sich aber inzwischen die Funktion einer Quasi-Exekutive angemaßt habe. Ein vergleichbarer Schlamassel entstünde durch das Nebeneinander von vier kollektiven Akteuren, die jeweils für sich eine Letztkompetenz beanspruchten: erstens des Europäischen Rats; zweitens jener Staaten der Eurozone, die völkerrechtliche Verträge jenseits des Unionsrechts vereinbaren; drittens der Organe der ordentlichen Gesetzgebung; und viertens der Europäischen Zentralbank als letzten Stabilitätsankers der Währungs- und Sozialunion. Vor einer EU der zwei Geschwindigkeiten mit einer Kernzone wirtschaftlich leistungsstarker Länder und einer Peripherie leistungsschwacher Länder, warnte P. Hengsbach. Sie beschwöre vielmehr ein Szenario herauf, das in Konflikten und Trennungen enden würde.
„Wieso zerbricht die EU nicht trotz ihres Krisenmodus als eines Dauerzustands?“, fragte der Jesuit. Wegen einer „schwingenden Architektur“, die verhindere, dass Verknotungen nicht wie vom großen Alexander durchgehauen, sondern nachsichtig und behutsam aufgelöst werden. Aber auf lange Sicht leide darunter die Rechtssicherheit und habe eine gleitende Entfremdung der Mitgliedsländer zur Folge. Die EU sei ein „Staatenverbund“, eine Mehrebenen-Demokratie, „ein sich ergänzendes, ineinandergreifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten, eine national-europäische Doppeldemokratie“ (W. Schäuble). Träger der ursprünglichen Souveränität seien die Nationalstaaten, die einen Teil ihrer Kompetenzen und deren Reichweite an ein supranationales Rechtssubjekt übertragen haben. Deshalb müsse die Zuordnung der Kompetenzen zwischen der supranationalen und nationalen Ebene fair ausbalanciert werden und bleiben. Eine solche „freie Republik souveräner Staaten“ sei nach Immanuel Kant die Gewähr ewigen Friedens. Deshalb sei auf längere Sicht eine Verfassung für den Fortbestand der EU unverzichtbar. Nationale und europäische Bürgerinnen und Bürger wählten in grenzüberschreitenden Wahlen ein europäisches Parlament als ihre souveräne Repräsentanz. Dies wähle eine Exekutive. Eine Länderkammer aus staatlichen Organen und zivilgesellschaftlichen Vertretern sowie ein Gerichtshof seien weitere EU-Organe. „Der Charme des Nationalen liegt in der primären Souveränität, in der Garantie der Sicherheit des Rechts, Grund- und Menschenrechte zu haben. Die Anziehungskraft der Region liegt in der vom Boden her organisch gewachsenen emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger.“ Europa habe eine Zukunft, schloss P. Friedhelm Hengsbach seinen Vortrag.
Im Podiumsgespräch mit Matthias Donauer und Mitgliedern der Diözesanversammlung konkretisierte und vertiefte P. Hengsbach einige seine vorgelegten Gedanken. Michael Detjen (Kaiserslautern), Mitglied des Europäischen Parlamentes und Schüler von Prof. Friedhelm Hengsbach, befürwortete eine Europäische Sozialunion und rief die Delegierten auf, an der Wahl zum Europäischen Parlament teilzunehmen und in ihren Kolpinggemeinschaften, Kirchengemeinden und Familien dafür zu werben. Diözesanvorsitzender Andreas W. Stellmann dankte P. Hengsbach herzlich und überreichte ihm als Präsent ein Buch über „27 Kolpingsfamilien in Deutschland“.
Das Kolpingwerk zählt in der Diözese Speyer 5.400 Mitglieder in 50 örtlichen Gemeinschaften, den Kolpingsfamilien. 900 Mitglieder sind unter 30 Jahre alt und gehören der Kolpingjugend an. In Deutschland hat der Verband, der sich auf den Seligen Adolph Kolping und seine Katholischen Gesellenvereine zurückführt, über 230.000 Mitglieder in 2.500 Kolpingsfamilien. Weltweit zählt das Kolpingwerk in 61 Ländern über 420.000 Mitglieder in über 7.000 Kolpingsfamilien. Sein Wahlspruch lautet: „Verantwortlich leben – Solidarisch handeln.“
Text/Foto: Kolping - Bettinger