Donnerstag, 30. März 2017
Bereicherung durch den erfahrenen Insider-Blick
Referentin und Autorin Gee Vero vermittelte anschaulich Wissen zum Thema Autismus für Fachleute, Eltern und Betroffene im Caritas-Förderzentrum St. Laurentius und Paulus in Herxheim
Herxheim. Eine Brücke zwischen der Wissenschaft und ihrem Leben schlug die Referentin Gee Vero am Montag, 27. März, beim Tagesseminar „Autismus - (m)eine Wahrnung“. Die Zuhörer in der voll besetzten Turnhalle der Schule mit dem Förderschwerpunkt ganzheitliche Entwicklung in Herxheim erlebten eine bereichernde, kurzweilige und humorvolle Veranstaltung. Gee Vero klärte auf und machte Mut durch Lernstrategien. Ihr Appell: „Mehr Geduld, Verständnis und Akzeptanz“ für autistische Menschen.
So souverän, versiert und unterhaltsam hatten sich die wenigsten der 160 Teilnehmer des Tagesseminars eine autistische Referentin vorgestellt. Sie gab damit ein Beispiel für gelungenes Kompensieren von Ängsten, Widerständen und vielfachen Einschränkungen durch das Anderssein. Im Verlauf der Veranstaltung wurde aber klar, wie hart die 1971 geborene Anglistin, Autorin und freie Referentin für Autismus und Kunst, die auch in London lebte und dreifache Mutter ist, an sich gearbeitet hat. Und, „weil ich dazu gehören wollte“, eigene „Überlebensstrategien“ entwickeln musste.
Denn das Asperger Syndrom, eine Form des Oberbegriffs Autismus-Spektrum-Störung (ASS), wurde bei ihr erst mit 37 Jahren diagnostiziert. Dass sie mit dem Störungsbegriff so gar nicht zufrieden sei, das verdeutlichte Vero zu Beginn des Seminars. Denn „wir alle sind anders“, sagte sie. Und autistisches Verhalten sei anderes, aber ebenso „richtiges Verhalten“.
Im ersten Teil des Seminars mit dem Titel ihres 2014 Buches „Autismus - (m)eine Wahrnehmung“, umriss die Autorin die Themen Reizverarbeitung und Wahrnehmungsverhalten, neurologische Abläufe sowie Kommunikation und Sprachverständnis, wo es die meisten Missverständnisse gibt. In bildhafter Sprache und farblich anschaulichen Symbolen verglich sie das autistische Gehirn „als Firma“ mit diversen „Zahnrädern“, etwa der Erfahrungen, Erwartungen und Wahrnehmungen.
Gerade letzteres drehe sich ständig, verursache ein Zuviel an Sinneseindrücken, was ein zentrales Merkmal für Autismus ist. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung, Körper - und Zeitwahrnehmung wurden erläutert und informiert, dass es kein Gewöhnen an einfache Alltagsdinge gebe. Bei ihr sei täglich alles neu und vieles somit potenziell gefährlich. Deswegen sei sie „immer Pilot, wo andere auf Autopilot schalten können“, so Gee Vero.
Die Alarmanlage Amygdala im Gehirn sende überdreht Warnsignale aus und melde Gefahren, wo keine seien. Das verursache „hohen Stress und raubt Energie“, lasse sich aber durch Kompensationsstrategien wie „Stimming“ (Selbststimulierung) umtrainieren, gab die Referentin einen Lichtblick. Die Hirnrinde (Kortex), das für Logik zuständige „Expertenteam“, helfe ihr dabei, aus „Tigern“ (wie Blicke, Geräusche, Begegnungen) „Kätzchen“ zu machen - etwa für die Dauer eines Vortrags. Wo sie in den Pausen teils Kopfhörer gegen die Reizüberflutung trug und dies zuvor als eine ihrer Schutzmethoden ankündigte. Trainingsgeeignet seien auch öffentliche Plätze wie Bahnhöfe und Restaurants, hieß es. Sie ging auf die Selbstakzeptanz als Schlüssel zur Inklusion ein und gab viele, oft humorvolle Beispiele, etwa zu Stoppmechanismen, Patchwork-Ichs, Auszeiten und anderes mehr, wofür sie spontan applaudiert wurde.
Wichtiges Thema war die Kommunikation. Hier werden Tonfall und nonverbale Signale oft fehlinterpretiert, Ironie und Sarkasmus nicht verstanden. Die Interaktion mit ihrem Sohn, bei dem „frühkindlicher Autismus“ diagnostiziert wurde, laufe zu 70 Prozent nonverbal ab, nur zu sieben Prozent über das Wort. Gestik und Mimik hätten hingegen viel Bedeutung.
"Brückenbaupläne" für den Umgang mit autistischen Kindern
Im zweiten Seminarteil nach der Mittagspause, betitelt mit „Das autistische Kind in meiner Klasse“, lag der Fokus auf dem Entdecken und Nutzen von Potenzialen, auf Sinnes- und Selbstwahrnehmung, Kompensationsstrategien und Hilfsmittel. Neben pädagogischer Sensibilisierung von Lernbegleitern mit viel Geduld, Verständnis, Toleranz und Akzeptanz als Basis, seien „Brückenbaupläne“ nötig. Mit klaren Regeln und Abläufen, dem Stimming, Notfall- und Auszeiten, Visualisierungshilfen wie Bild- und Emotionskarten, das Spiegeln des Verhaltens, Rückzugsräume und mehr. Brücken fürs gelingende Miteinander seien die Eltern im engen Austausch mit der Schule, motivierende Lernbegleiter und die Weiterbildung, hob Vero hervor.
Das Willkommen zu dem Multimedia-Vortrag hatte eingangs Gesamtleiter Thomas Moser vom Caritas-Förderzentrum St. Laurentius und Paulus gesprochen, der sich über die große Resonanz der Teilnehmer freute. Darunter waren Lehrkräfte und Lernbegleiter aus Regel- und Förderschulen, Fachkräfte aus Jugend- und Sozialämtern, Psychologen und Therapeuten des Pädagogischen Landesinstituts, Fachberater für Integration und Inklusion sowie Eltern autistischer Kinder und betroffene Erwachsene.
Das Team der „Fachstelle Autismus“ im Caritas-Förderzentrum St. Laurentius und Paulus Herxheim war mit Infos, Motorikspielen und Lernmaterialien sowie dem Vero - Kunstprojekt „The Art of Inclusion“ vertreten, Schülerinnen der Förderschule präsentierten ihre bunten Porträts aus diesem Projekt. Eine der Mütter dieser Künstlerinnen, Sandy Williams, war sehr angetan von dem Seminar, das ihr nun „ein viel besseres Hineinversetzen in mein Kind ermöglicht“.
Der Insider-Blick der Referentin habe „sehr bereichert“, sagte Integrationsberaterin Jutta Hartmann-Bernatz. Positives Fazit zog auch Schulleiterin Marianne Bauer, die Gee Vero mit einem Gästepräsent aus Herxheim dankte und hofft, „dass die schon vorhandenen Bausteine mit den neuen helfen werden, gute Brücken zu bauen“.
Text/Foto: Caritasverband für die Diözese Speyer / Maria Hirsch
