Mittwoch, 12. November 2025

„Erinnerungen einer vergessenen Kindheit"

von links: Sybille Slater, Lars Smekal, Julia Kramm, Rick, Susanne Mayer-Stork © Brigitte Schmalenberg 

Der preisgekrönte Regisseur Lars Smekal zeigt in Landau seinen autobiografischen Film über das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie

Landau. „Mama, aufstehen! Es íst schon zwölf, ich habe Hunger.“ Vorsichtig wagt sich der zwölfjährige Niklas ins abgedunkelte Elternschlafzimmer, wo seine Mutter ihren Rausch ausschläft und ihn schlaftrunken zum Kuscheln an ihr Bett lockt. „Guten Morgen, mein Schatz, komm mal kurz zu mir. Ich hab‘ dich doch soooo lieb,“ haucht sie ihm entgegen und bekommt nach kurzer Annäherung die Antwort, dass sie stinkt. Schon die Anfangssequenz des Kurzfilms „Erinnerungen einer vergessenen Kindheit“ birgt eine geballte Ladung Emotion und Information. Intuitiv spürt der Zuschauer die Zerrissenheit des Kindes zwischen Liebe und Ekel, Verunsicherung und Selbstvergewisserung, Hilflosigkeit und Verantwortungsbewusstsein, einem familiären Desaster und der Idylle, die sich eigentlich alle wünschen und die vielleicht früher wirklich einmal war.

Dreißig intensive Minuten später, nachdem man auch Niks kumpelhaften Vater mit seinen Abstürzen am Glücksspielautomaten, eine völlig unkompetente Schulleitung und einige traurige alltagstypische Situationen miterlebt hat, sind Niks Lebensumstände zwar nicht besser, aber er hat eine Person gefunden, der er sich mitteilen kann. Dieses große Glück hatte auch Regisseur Lars Smekal, der den mittlerweile mehrfach preisgekrönten autobiografischen Streifen vor drei Jahren gedreht hat, damit zu Festivals auf der ganzen Welt reist und letzte Woche auf Einladung der Caritas zu Gast in Landau war.

Denn genau wie der Filmemacher sind auch die Suchtberater der Caritas vom erschreckenden Ist-Zustand unserer Gesellschaft alarmiert: Laut Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung lebt rund jedes vierte Kind in Deutschland mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammen. Etwa drei Millionen Minderjährige haben einen alkohol- oder drogenabhängigen Elternteil. Das ist ein schweres Schicksal, das sie oft alleine tragen, mit der Konsequenz, dass nur ein Drittel der Betroffenen unbeschadet ins Erwachsenenleben kommt. Deshalb gibt es bei der Caritas das Präventionsprojekts „Super Kidz“, das sich an Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien richtet, ihnen Raum für Treffen und Austausch, Ansprache und Unterstützung gibt.

Wie breit diese Hilfe gefächert, wie vielseitig sie gestaltet und wie unkompliziert und niederschwellig sie auch von Angehörigen und Freunden der Betroffenen ganz anonym und völlig kostenlos in Anspruch genommen werden kann, vermittelten Susanne Mayer, Julia Kramm (Projektleiter Super Kidz) und Sybille Slater (Fachstelle Sucht Diakonie Landau) in der moderierten Gesprächsrunde im Anschluss an den Film. Wie sehr diese Hilfe nötig ist, verdeutlichten die Ausführungen ihres Gesprächspartners Rick, der selbst bei einem alkoholkranken Vater groß wurde. Rückblickend wurde ihm bewusst: Niemals hätte er sich in seinem Leid einem anderen anvertraut; sogar bei einem offiziellen Gespräch mit Fachleuten, die ihn nach der häuslichen Situation ausfragten, habe er seinen Vater mit aller Macht verteidigt und Normalität vorgetäuscht. Es wäre ihm aber auch nie in den Sinn gekommen, dass es noch mehr Kinder mit den gleichen Problemen geben könnte. Deshalb hätte ihm dieser Film, wenn er ihn als Jugendlicher hätte sehen können, bestimmt sehr geholfen.

Regisseur Lars Smekal hat schon viele andere gesellschaftsrelevante Themen in Filmen verarbeitet, bevor er sich an seine eigene Geschichte wagte. „Das Thema hat lange und tief in mir geschlummert. Ich hab‘ mich oft gefragt: Wie hab‘ ich das erlebt als Kind. Deshalb wollte ich das Thema auch aus Sicht eines Kindes erzählen.“  Ein Kind, das seine Eltern trotz all der schrecklichen Umstände liebt, und auch von seinen Eltern Liebe erfährt. Ein Kind, das bei all dem Grauen auf keinen Fall aus dieser Familie herausgenommen werden will. Ein Kind, das sich für seine Eltern schämt und deshalb alles schön redet und vertuscht. Dass der Streifen autobiografisch ist, habe er anfangs gar nicht erwähnen wollen, meint Smekal. „Aber es haben sich so viele Menschen mir gegenüber geöffnet, dass auch ich komplett aufgemacht habe. Ich bin kein fachlicher Experte, aber ich habe gemerkt, dass ich für Betroffene so eine Art Leuchtturm bin. Und ich sage Euch: das ist auch für mich ein heilsamer Prozess.“ Besonders gerne gehe er mit seinem Film an Schulen, „Da merke ich immer, dass der Gesprächsbedarf groß ist.“

Auch in Landau gab es am Vormittag schon eine Schülervorstellung mit sehr ergreifenden persönlichen Reaktionen. Die Abendvorstellung endete ebenfalls mit lebhafter Resonanz der Zuschauer, darunter Lehrer, die einige ihrer Schüler in einem suchtbelasteten Elternhaus wissen, Mitglieder von Selbsthilfegruppen, engagierte Jugendarbeiter. Sie alle haben bei dieser Veranstaltung gelernt, dass es für betroffene Kinder nicht in erster Linie darum geht, die Verhältnisse komplett zu ändern. sondern schlicht und einfach darum, sichtbar zu sein, eine Vertrauensperson zu finden, die zuhören und die Sorgen teilen kann. Lars Smekal drückt das so aus: „Es gibt keine einfachen Lösungen. Aber jeder kann ein guter Stern im Leben eines Betroffenen sein.“

Der Film „Erinnerungen einer vergessenen Kindheit“ von Lars Smekal kann für private und berufliche, beziehungsweise ehrenamtliche Zwecke auf der Webseite des Autors gestreamt werden. Hier findet man auch Infos zum Projekt „ErINNerung wirkt“, die Fortbildung für pädagogische und therapeutische Fachkräfte unter Einbezug des biografischen Films bietet.

https://www.larssmekal.de/

Text: Brigitte Schmalenberg