Dienstag, 17. März 2020
Predigt zum 3. Fastensonntag
Am Sonntag, den 15. März, feierte Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann einen Gottesdienst im Speyerer Kloster St. Magdalena, der über Livestream in das gesamte Bistum übertragen wurde. Seine Predigt dokumentieren wir hier im Wortlaut.
Liebe Schwestern und Brüder, hier in St. Magdalena und überall dort, wo Sie jetzt mit uns durch das Internet verbunden sind!
Am heutigen Sonntag hören wir das Wort Gottes in einer ganz besonderen Situation. Was will der Herr uns an diesem Sonntag in der österlichen Bußzeit sagen?
Nehmen wir uns zunächst die 1. Lesung aus dem Buch Exodus vor.
Massa und Meriba – Probe und Streit (Ex 17,7), so nennt Mose den Ort in der Wüste, an dem das Volk Israel Durst litt und sich gegen Gott auflehnte; an dem Gott dem Mose auftrug, mit seinem Stab an einen Felsen zu schlagen, damit Wasser herauskommt und die Israeliten trinken können.
„Probe …“: Auch wir befinden uns angesichts der Verbreitung des Coronavirus in einer Zeit der Probe. Unsere Gesellschaft, unser Gesundheitssystem, unsere Wirtschaftskreisläufe werden einer Belastungsprobe, einem Stresstest ausgesetzt: Aufrechterhalten der medizinischen Versorgung, Erhalt von Arbeitsplätzen, Erhalt der Besonnenheit in der Bevölkerung. Auch persönliche Belastungsproben für jeden Einzelnen von uns stehen an: Wie komme ich mit den Einschränkungen zurecht? Welche Gefühle haben in meinem Inneren die Oberhand – Angst und Sorge oder Vertrauen?
Als erstes fühlen wir uns verbunden mit all denen, die in diesen Tagen besonderer Belastung ausgesetzt sind: den Eltern, die nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, dass ab morgen im ganzen Land Schulen und KiTas geschlossen sind; den Arbeitnehmern, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben; denen, die einer besonderen Risikogruppe angehören und deshalb besonders unter Verunsicherung und Einsamkeit leiden; die Ärzte und Pfleger, die ihr Bestes geben wollen und dafür auch die eigene Gefährdung in Kauf nehmen; den Politkern und Verantwortlichen, die schwierige Entscheidungen zu fällen haben in aller Ungewissheit, die schon die nächsten Stunden bringen können…
„… und Streit“: Gleichzeitig wird auch gestritten – um angemessene Lösungen auf die aktuelle Herausforderung. Welche Maßnahmen sind notwendig, um die Ausbreitung des Virus zumindest zu verlangsamen, damit die medizinische Versorgung weiterhin möglich bleibt – und zugleich unser öffentliches und auch unser wirtschaftliches Leben nicht zusammen bricht. Welche Berichterstattung hilft den Menschen, sich über Risiken zu informieren und ihr Leben entsprechend zu gestalten – und wo sind Angsttreiber, die die Situation ausnutzen und falsche Panik ausstreuen? Und natürlich ringen wir alle um die richtigen Lösungen und ein verantwortliches Verhalten: Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, wie weit sollen sie gehen? Sind die weitreichenden Einschränkungen gerechtfertigt?
Das macht auch vor der Kirche nicht halt. Wie können wir den Menschen Halt geben und Vertrauen schenken, aber gleichzeitig auch unseren Beitrag leisten, Menschen vor einer Ansteckung möglichst zu schützen? Aus dieser Verantwortung heraus haben wir für das Bistum vor zwei Tagen Entscheidungen getroffen, die mit schwerwiegenden Einschnitten verbunden sind: wir feiern vorerst keine öffentlichen Gottesdienste und auch alle sonstigen öffentlichen Veranstaltungen werden abgesagt.
Das war für mich eine sehr schwere Entscheidung. Aber sie ist Ausdruck unserer Verantwortung. Gerade wir haben eine Verantwortung für das Zusammenleben der Menschen. Deshalb tragen auch wir dazu bei, Risikogruppen – v.a. ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Personen – zu schützen, und leisten unseren Beitrag, Ansteckungsrisiken zu verringern. Auch wir haben Sorge dafür zu tragen, dass unser Gesundheitssystem handlungsfähig bleibt und alle Menschen medizinische Hilfe erhalten, die sie brauchen. Alles kommt jetzt darauf an, Zeit zu gewinnen, damit gerade die Schwächeren die menschenwürdige Hilfe erfahren können, deren Wahrung uns vom Evangelium uns vom Evangelium her aufgetragen ist. Hier geht es wirklich um die Option für die Armen und Hilfebedürftigen. Deshalb Bitte um Beachtung, um Mittragen und Verständnis.
Aber zugleich ziehen wir uns gerade jetzt nicht hinter die dicken Mauern unserer Kirchen zurück. Wir schließen unsere Kirchen nicht – ja, das ist meine besondere Bitte: Halten wir möglichst alle Kirchen offen, damit die Menschen einen Ort des Gebetes, der Ermutigung und des Trostes offen stehen haben! Wo sie eine Kerze anzünden und im Gebet Stärkung erfahren können! Unsere Priester wie auch die Ordensgemeinschaften im Bistum, so wie hier die Schwestern des Dominikanerinnenklosters St. Magdalena, feiern auch weiterhin Gottesdienste – vor allem die Feier der Eucharistie (als Quell und Höhepunkt der Kirche) und der Stundenliturgie, wenn auch in nichtöffentlicher Weise. Sie beten stellvertretend für ihre Gemeinden. Sie nehmen die Sorgen und Anliegen aller Menschen mit ins Gebet und bitten Gott um Heilung für Betroffene; um Stärkung und Trost für Angehörige; um Weisheit für die Entscheidungsträger; um Vertrauen für alle, die sich sorgen; um Einsicht für die, die mit den Einschränkungen im gesellschaftlichen und ihrem persönlichen Leben nicht zurechtkommen. Wir laden alle ein, die Möglichkeiten der Mitfeier von Gottesdiensten und anderen geistlichen Angeboten zu nutzen, die uns die Medien dankenswerterweise bieten: TV-Gottesdienste, Gottesdienste im Internet, Netzgemeinde da-zwischen usw. Wir bleiben eine große Gebetsgemeinschaft – ja, hier zeigt sich das Besondere dieser Gemeinschaft: Sie kann über alle trennenden Grenzen gehen, sie verbindet auch dort, wo wir nichtunmittelbar zusammen sein können. Gerade wir Christen können zeigen, dass Gemeinschaft etwas viel Umfassenderes sein kann – sie ist überall, wo der auferstandene Herr in unseren Herzen wohnt und aus uns einen Leib macht.
Alle Seelsorger/innen stehen weiterhin als Ansprechpartner für seelsorgliche Gespräche zur Verfügung – wenn möglich, in Form persönlicher Begegnungen und Gespräche. Aber auch auf andere Art und Weise, über Telefon oder digital.
Auf all diese Weisen wollen wir den Menschen zum Segen werden: Sie sollen erfahren, dass keiner mit seinen Ängsten alleine sein muss. Sie sollen erfahren, dass andere an sie denken und für sie beten.
In jedem Gottesdienst wissen uns nicht nur in Gedanken, sondern im Glauben an Jesus Christus zutiefst real verbunden auch mit denen, die – aus welchem Grund auch immer – nicht mitfeiern können: mit den Alten und Kranken; mit denen, die den Zugang zu Gott verloren haben und nicht mehr glauben können. Diese Gemeinschaft kann uns jetzt tragen. Auch wenn wir die heilige Kommunion nicht unmittelbar empfangen können, sind wir doch mit Christus und seinem Leib intensiv verbunden: wir können auch auf geistliche Weise kommunizieren mit der ganzen inneren Bereitschaft, sich mit dem Herrn und all seinen Brüdern und Schwestern gerade jetzt zu einem Leib zu verbinden – und Freude und Angst miteinander zu teilen. Und wir können neu unsere Aufgabe der Stellvertretung entdecken: wir tragen Gott stellvertretend die Sorgen und Nöte aller Menschen vor, besonders derer, die unser Gebet besonders brauchen, und auch derer, die selbst nicht (mehr) beten können.
Das führt mich zur 2. Lesung aus dem Römerbrief.
Der Gedanke der Stellvertretung ist für unseren Auftrag als Christen zentral: „für andere“ dazusein – durch unsere konkrete Hilfe und unser Gebet. So wie auch Jesus sein Leben ganz „für andere“ verstanden und eingesetzt hat. So wie es in der zweiten Lesung geheißen hat: „Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist“ (Röm 5,8).
Das 5. Kapitel des Römerbriefs, ein Text der einer Gemeinde Hoffnung und Mut macht, die unter vielen Bedrängnissen leidet; die aus vielen Sklaven und Unfreien besteht, deren Mitglieder von den Römern zunehmend als Bedrohung verstanden und verfolgt werden.
Dieser Gemeinde sagt Paulus zu: „Wir haben Frieden mit Gott … Wir haben Zugang zur Gnade … Die Hoffnung lässt uns nicht zugrunde gehen … Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen …“
Der Römerbrief ist kein Freibrief für sorgloses Handeln – nach dem Motto: „Uns kann nichts passieren!“ Auch Christen sind vor Prüfungen, Krankheiten, Ängsten nicht gefeit. Das heißt angesichts der gegenwärtigen Herausforderung: empfohlene Vorsichtsmaßnahmen nicht ignorieren, sich nicht in falschen Selbstsicherheiten wiegen, kein leichtsinniger Umgang mit dem eigenen Leben und vor allem auch der Gesundheit anderer.
Aber der Römerbrief ist zugleich ein Trostbrief für die, die sich sorgen und Angst haben: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat“ (Röm 8,35).
Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott auch und gerade in diesen Tagen bei uns ist. In diesen Tagen, in denen unsere gewohnten Abläufe so sehr unterbrochen werden. In denen manche das Gefühl haben, das ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dass ihnen alle Sicherheiten genommen werden.
Wir dürfen darauf vertrauen: Gott ist gerade auch in den Menschen am Werk, die hier und heute „für andere“ da sind. In den Angehörigen und Freunden, die Betroffene besuchen und ihnen zur Seite stehen und Verunsicherte trösten; die sich jungen Familien als Betreuer für ihre Kinder anbieten, damit Eltern in die Arbeit gehen können; die alten und kranken Menschen ermöglichen, Gottesdienste im Internet mitzufeiern usw. In den Ärzten und Pflegenden, die sich bis an die Grenzen ihren Kraft Kranken zuwenden und ihnen mit allen Möglichkeiten der Medizin helfen. In den Politikern, die ihren Auftrag und ihre Verantwortung wahrnehmen, für alle Menschen in unserem Land die nicht einfachen, aber notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ihnen allen gilt unser tief empfundener Dank!
Und so kommen wir zum heutigen Evangelium.
Unsere aktuelle Situation hat etwas von einer Wüstenerfahrung: Eine Zeit der Entbehrung, der Verunsicherung, der Entscheidung. So wie bei der Frau am Jakobsbrunnen, die durch die Begegnung mit Jesus immer tiefer in das Geheimnis ihres eigenen bewegten Lebens hineingeführt wird.
Jesus setzt sich über alle religiösen Gesetze und gesellschaftlichen Konventionen hinweg, sieht sie an, wendet sich ihr zu und spricht mit ihr. Er bittet sie um etwas und zeigt ihr damit, dass sie gebraucht wird und wertvoll ist. Und so wird sie behutsam zum Glauben geführt, dass er der Messias ist, der Retter der Welt, der jeden Durst zu stillen vermag. Und so führt sie auch die anderen Menschen aus ihrem Dorf zum Glauben an ihn, den Messias, der das lebendige Wasser schenkt.
In der Wüste ereignet sich für die Frau ein Neuanfang. Sie gewinnt eine neue Perspektive auf ihr Leben. Und sie findet einen neuen Zugang zu Gott. Vielleicht, so meine Hoffnung, führt uns auch die aktuelle Herausforderung in einen Neuanfang – gesellschaftlich und auch in der Kirche:
Die Ausbreitung des Coronavirus macht uns bewusst, wie global vernetzt und zugleich wie fragil unsere Welt inzwischen ist. Daraus kann ein tieferes Gespür dafür erwachsen, dass unsere Welt ein gemeinsamen Haus ist, dass die über sieben Milliarden eine einzige Menschheitsfamilie sind. Was uns nottut, ist die Entwicklung einer neuen, tieferen Solidarität aller Menschen über Ländergrenzen hinweg. Deshalb dürfen wir über die Coronakrise hinweg nicht die dramatische Situation der Flüchtlinge an der Außengrenze Europas aus dem Blick verlieren! Gleichzeitig vertieft die Krise unser Bewusstsein, dass wir als Menschen nicht alles im Griff haben können; dass wir unser Leben als bruchstückhaft und vorläufig annehmen – trotz allen technischen Fortschritts und aller wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die Einschränkungen im alltäglichen Leben (keine Flugreisen, Schließung von Einrichtungen) können uns den Wert eines einfacheren Lebensstils und eines nachbarschaftlichen Miteinanders zeigen. Neubesinnung auf das, was im Leben wesentlich ist: v.a. auch mitmenschliche Solidarität, Rücksichtnahme, achtsamer Umgang mit Älteren und besonders Gefährdeten: Besuche, Einkaufshilfe, Ermöglichung von Teilhabe. Schauen wir gerade jetzt auf unser nachbarschaftliches Umfeld, wer Hilfe benötigt.
Auch als Kirche verzichten wir auf viele Veranstaltungen und Angebote, auf Treffen von Gruppen und Kreisen. Darin kann die Chance liegen, uns zu fragen, worin unser Kernauftrag besteht: das konkrete Da-Sein „für andere“, vor allem für Not Leidende, Kranke, Verunsicherte; die Kraft des Gebetes und der Fürbitte; die Bedeutung von Trost und Hoffnung. „Ein Segen sollst ihr sein!“ Dieses Leitwort unseres Visionsprozesses fordert gerade jetzt unsere Kreativität heraus und bewährt sich auch auf andere Art und Weise als in den gewohnten gottesdienstlichen Formen und seelsorglichen Angeboten!
So kann uns wie der Samariterin neu Christus aufleuchten, als der, der gekommen ist, sich ganz in den Dienst der Menschen zu nehmen, der die Menschenfreundlichkeit Gottes uns gezeigt hat, der uns das Herz Gottes offenbart hat: „Er ist wirklich der Retter der Welt“ (Joh 4,42). Wir dürfen IHM vertrauen, dass er alles zum Guten wenden kann. Wir dürfen ihm unsere Sorgen und Nöte ans Herz legen. Und wir sollen uns ihm als seine Werkzeuge zur Verfügung stellen: durch unser besonnenes Handeln, aber auch durch unsere konkrete Hilfe kann er sich auch anderen als Retter erweisen.
Liebe Schwestern und Brüder, unsere Glocken läuten nun für eine Zeitlang nicht mehr zum Gottesdienst. Das macht mich zutiefst traurig. Vielleicht aber kann es uns auch wieder neu erschließen, wie wertvoll das Läuten unserer Glocken und die Gemeinschaft des Gebetes für unser Leben und unsere Zukunft ist. Wenn auch die Glocken zum öffentlichen Gottesdienst für eine Zeitlang nicht mehr einladen, so läuten sie dennoch dreimal am Tage, morgens, mittags und abends zum Angelus-Gebet. Ich lade alle Gläubigen unseres Bistums ein, dass wir in dieser Zeit beim Läuten der Glocken uns zur Gebetsgemeinschaft miteinander verbinden – im kurzen Innehalten durch das stille wie das häusliche Gebet insbesondere für die von der Krise am Härtesten Betroffenen. Der Angelus könnte so überall zu einem Augenblick der Solidarität und der geistlichen Gemeinschaft aller Glieder an dem einem Leibe Christi werden, der sein Leben für alle Menschen hingegeben hat. Und so beten wir mit der Patronin unseres Domes und unserer Diözese, Maria, die wir in dieser Not besonders um ihre Fürsprache anrufen und unter deren Schutz wir unser Bistum stellen: Durch die Botschaft des Engels haben wir die Menschwerdung Christi, deines Sohnes, erkannt. Führe uns durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung durch Christus, unseren Herrn. Amen.
Video des Gottesdienstes am Sonntag, den 15. März
