Dienstag, 27. Juni 2017
„Erinnerungsfetzen, die wie eingebrannt wirken“
Caritas-Schulungsabend in Mutterstadt für Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit: Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen
Mutterstadt. Das Caritaszentrum Speyer hat in Zusammenarbeit mit der Katholischen Erwachsenenbildung einen Fortbildungsabend für Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit veranstaltet: Im Katholischen Gemeindezentrum Mutterstadt sprach am Mittwoch Heiner Seidlitz, Psychologe und Theologe und ehemals Leiter der Telefonseelsorge Pfalz, vor rund 30 Teilnehmern zum Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen.
„Nicht alle bei uns angekommenen Flüchtlinge sind traumatisiert, aber die meisten leiden unter schwerer Trauer, denn sie mussten verlassen, was ihnen lieb und lebenswichtig war“, erklärte Seidlitz. „Auch ohne Trauma fällt es ihnen schwer, sich an die neue Lebenssituation anzupassen.“ Seidlitz informierte über die auftretenden, sich oft auch körperlich äußernden Anpassungsstörungen, wie Antriebslosigkeit, bleierne Müdigkeit, ständige unbegründete Angst, Trauer und auch Wut. Bereits hier gibt es viele, für die die Situation so unerträglich ist, dass sie an Selbsttötung denken.
Er informierte weiter, was, medizinisch gesehen, im menschlichen Gehirn vorgeht bei einem Trauma: „Neurophysiologische Vorgänge verhindern, dass das Ereignis sofort verarbeitet werden kann, damit die sofortige Handlungsfähigkeit erhalten bleibt.“ Dabei halte das Gehirn pauschal nur drei Reaktionen bereit: Kampf, Flucht, und wenn beides nicht möglich ist, Totstellen. „Wir alle kennen das auch von Tieren. Gefühlsempfindungen bleiben ausgeschaltet im Interesse des Überlebens.
Später allerdings fehlt das: Die Erinnerungen sind ungeordnet, willentlich nicht steuerbar, man kann sie nicht in einer Reihenfolge erzählen.“ Stattdessen gebe es Erinnerungsfetzen, die wie eingebrannt wirken, oder Flashbacks. „Bestimmte Sinneseindrücke können Panikattacken auslösen. Das alles kann sich über viele Jahre, sogar Jahrzehnte hinziehen, was man posttraumatische Belastungsstörung nennt. Das ist keine geistige Erkrankung, sondern völlig normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis“, so der Trauma-Experte.
Heilen oder Bearbeiten könne das ein ehrenamtlicher Helfer nicht. „Aber er kann damit umgehen, etwa erkennen, dass Wut und Aggression sich nicht auf ihn persönlich beziehen, sich gegebenenfalls auch schützen, und persönliche Schuldgefühle vermeiden.“ Heiner Seidlitz hatte eine Menge Empfehlungen parat, etwa zu vertrauensbildenden Maßnahmen, wozu auch das Vermeiden übertriebener Hoffnungen gehört – die ja schlimmstenfalls zu Retraumatisierungen bei den geflüchteten Menschen führen können. Ein ganz wichtiger Rat war: „Traumatisierte nicht dazu bringen, von ihren Erlebnissen zu erzählen, das verschlimmert alles. Stattdessen zuhören, wenn sie selbst es wollen und können.“
Die Teilnehmer hatten viel aus ihren Erfahrungen zu berichten, übrigens nicht nur aktuell zur Flüchtlingssituation. In Kriegs-und Nachkriegszeit haben Eltern und Großeltern Traumata erlebt, die man damals nicht benennen konnte.
Heiner Seidlitz hat bereits nach der Flugkatastrophe von Ramstein 1988 Gruppen zur Nachbegleitung Traumatisierter aufgebaut und ist heute im Ruhestand ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit tätig, ebenso wie die fast dreißig Teilnehmer aus Kirchengemeinden im Rhein-Pfalz-Kreis.
Wichtige Webadressen zum Thema:
www.be-here-know.eu
www.dbt-shg-duisburg.de
Die nächste Fortbildung wird sich am 18. Oktober im Gemeindezentrum Mutterstadt dem Thema „Wie kann den Ehrenamtlichen das ,Amt‘ helfen?“ widmen
Text: Andrea Dölle / Foto: Caritasverband für die Diözese Speyer
