Dienstag, 16. Dezember 2025

"Darf man jemanden zur Körperpflege zwingen?"

Daniela Ball-Schotthöfer (li.) und Stefanie Kreutz sind Ethikberaterinnen. Sie halten die Tür offen für Angehörige, Mitarbeitende und Ehrenamtliche, die mit einem ethischen Konflikt konfrontiert sind und darüber reflektieren wollen. © Christine Kraus 

Ethikberaterinnen des Caritasverbandes Speyer helfen, gute Lösungen für ethische Konflikte zu finden

Speyer. Seit zehn Jahren bietet der Caritasverband für die Diözese Speyer Ethikberatungen an. Mitarbeitende sind darin geschult, mit allen Betroffenen gemeinsam einen Weg für die Probleme der Bewohnerinnen und Bewohner der Caritas-Alten und -Förderzentren zu finden, für die es auf den ersten Blick keine Lösung gibt.

Manchmal ergeben sich im Alltag von Altenpflegeeinrichtungen oder Förderzentren Konflikte, in denen es nicht einfach ist, eine Entscheidung zu treffen. Dann ist die Situation vor Ort vielleicht festgefahren und ein Blick von außen hilfreich. Der Caritasverband Speyer hat deswegen im Laufe der vergangenen zehn Jahre sechs Mitarbeiterinnen und einen Mitarbeiter zu zertifizierten Ethik-Beratern qualifiziert.

Eine der ersten von ihnen ist Stefanie Kreutz, Fachleitung der Jungen Pflege St. Anastasia in Limburgerhof. Koordiniert wird die Ethik-Beratung von Daniela Ball-Schotthöfer, die selbst ausgebildete Ethik-Beraterin ist. Die beiden erzählen, wann eine Ethik-Beratung hilfreich ist und wie sie abläuft.

„Manchmal geht es um Fragen am Lebensende, ob zum Beispiel noch eine Magensonde zur künstlichen Ernährung gelegt oder noch eine Dialyse durchgeführt werden soll“, sagt Stefanie Kreutz, „daran denken viele vielleicht spontan bei einer Ethikberatung. Aber nicht immer geht es um Leben oder Tod.“ Da sei zum Beispiel der Bewohner eines Altenzentrums, der mit dem Elektro-Rollstuhl noch selbstständig unterwegs ist, aber das Fahrzeug aufgrund einer Suchtproblematik nicht mehr beherrschen kann und andere gefährdet. „Darf man ihm diese Freiheit nehmen? Muss man es vielleicht sogar?“, fragt die Ethik-Beraterin. „Oder wie ist das mit dem Bewohner, der jegliche Körperpflege verweigert. Muss er gegen seinen Willen gewaschen werden?“, ergänzt Daniela Ball-Schotthöfer, „und was ist mit jemanden, der im Speisesaal mit Besteck um sich wirft. Soll er ausgeschlossen werden vom gemeinsamen Mittagessen?“

 

Autonomie, Fürsorge, Nichtschaden und Gerechtigkeit als ethische Prinzipien

So einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, seien die Abwägung nicht. Bei diesen ethischen Fragenstellungen stünden sich meist zwei der vier ethischen Prinzipien gegenüber. „Diese sind: Autonomie, Fürsorge, Nichtschaden und Gerechtigkeit. Im Falle der Person, die die Körperpflege verweigert, sind das Autonomie und Fürsorge“, erklärt Stefanie Kreutz. „Der Betroffene hat ein Recht auf Selbstbestimmtheit, er muss sich nicht waschen lassen.“

Ball-Schotthöfer ergänzt: „Die Person, die im Speisesaal randaliert, hat ein Anrecht auf Mittagessen im Speisesaal, aber die anderen Essensteilnehmer dürfen natürlich nicht von umherfliegendem Besteck getroffen werden. In diesem Fall müssen die ethischen Prinzipien Autonomie und Nichtschaden abgewogen werden.“

Hier könnte eine Ethikberatung weiterhelfen. Jeder Bewohner eines Caritas-Alten- oder Förderzentrums oder Personen, die einen Bezug zu ihm haben, können eine Ethikberatung anfragen. Das können Angehörige, haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende, Therapeuten, Ärzte, Pflegekräfte, Einrichtungsleitungen oder gesetzliche Betreuer sein. „Auf diese Anfrage wird ein Zweierteam von Ethikberaterinnen gebildet“, erläutert Ball-Schotthöfer. „Sie bringen alle Beteiligten zeitnah zu einer Gesprächsrunde zusammen.“ Wichtig sei: Alle kommen zu Wort und ihre Ausführungen werden gleich gewichtet.

 

Ein leerer Stuhl steht für die Person, um die es geht

„Im Normalfall steht die medizinische Sicht über allem, in der Ethikberatung ist sie eine von mehreren Standpunkten“, sagt Ball-Schotthöfer. Der Bewohner, um den es geht, sei bei den Gesprächen nicht mit dabei. „Aber ich lasse immer einen Stuhl frei und stelle mir vor, dass der Bewohner dort sitzt, so verliere ich ihn nicht aus dem Blick“, erklärt Stefanie Kreutz. Die Ethikberaterinnen moderieren diese Gesprächsrunde. Darin sind sie geschult, denn neben der Vermittlung von ethischen, juristischen und medizinischen Fragestellungen wird bei der Qualifikation zum Ethikberater großer Wert auf Moderationstechniken gelegt.

„Einer der beiden Ethikberater moderiert die Gesprächsrunde, der andere protokolliert. Wenn alle Meinungen gehört wurden, erarbeiten sie gemeinsam mit den Teilnehmenden verschiedene Handlungsoptionen“, sagt Kreutz. „Wir selbst treffen keine Entscheidung“, so Ball-Schotthöfer. „Wenn es keine gute Option gibt, dann suchen wir nach einem Zwischenziel oder verabreden uns zu einem neuen Termin.“ Doch bisher habe es noch nie den Fall gegeben, dass sich keine Lösung gefunden hat. Dabei gehe es nie um allgemeine Lösungen, sondern um den konkreten Einzelfall, in dem auch immer die Biographie des Betroffenen mitberücksichtigt werde. Wenn sich Menschen auf ihren letzten Weg machen, kann die Ethikberatung Angehörigen helfen, die Situation zu verstehen und anzunehmen.

 

Auch Kreativität ist gefragt, um gute Kompromisse zu finden

Manchmal sei auch Kreativität gefragt: „Der rasende Elektro-Rollstuhl-Fahrer darf weiter seine Ausflüge machen, bekam aber sein Gefährt gedrosselt“, berichtet Kreutz.

„Etwa sieben Mal im Jahr wird eine Ethik-Beratung angefragt, in diesem Jahr 2025 waren es neun Fälle“, bilanziert Daniela Ball-Schotthöfer, die stolz auf dieses Projekt ist. Hier in der Diözese Speyer sei ihr so ein Angebot nur von Caritas-Einrichtungen bekannt. „Die Ethikberaterinnen und -berater, die nach den Grundsätzen der ,Akademie für Ethik in der Medizin‘ qualifiziert wurden, machen das zusätzlich zu ihrer Arbeit.“ Sie seien in ganz unterschiedlichen Bereichen beschäftigt, kommen aus der Altenhilfe, der Eingliederungshilfe, der gesundheitlichen Vorsorgeplanung und dem Hospizbereich. „Ausgebildet sind sie als Pädagogen oder Heilpädagogen, Pflegefachkräfte oder haben soziale Arbeit studiert. Alle haben das gleiche Ziel: Menschen aus einem ethischen Dilemma heraus zu helfen“, fasst Stefanie Kreutz zusammen.

 

Text: Christine Kraus für den Caritasverband für die Diözese Speyer