„Schuld“ kann Sinn machen
21. Februar 2022 - KrisenBlog
Zu den intensivsten Gefühlen, die wir Menschen empfinden können, zählen die sog. Bindungsgefühle. Laut dem britischen Kinderarzt und Kinderpsychiater John Bowlby treten sie bei der Entstehung, Aufrechterhaltung, dem Abbruch und der Erneuerung von Bindungen auf.
Angst, Trauer, Wut, aber auch Gefühle wie Sicherheit und Freude machen deutlich, wie sehr wir auf besonders beständige Bindungen im Leben angewiesen sind. Wir leiden enorm darunter, wenn uns dieser „sichere Hafen“ oder diese „Sicherheitsbasis“ verwehrt bzw. entzogen wird, oder sogar ganz verloren geht.
Als ein im ersten Moment ungewöhnliches Bindungsgefühl kann das Empfinden von Schuld und Schuldgefühlen angesehen werden. Die deutsche Trauerbegleiterin Chris Paul hat in ihrem Buch „Schuld Macht Sinn“ auf diese besondere Bedeutung von Schuld aufmerksam gemacht. Gewissermaßen können Schuld und Schuldgefühle eine starke Verbindung zu Menschen herstellen, die uns wichtig waren/ sind und deren Verlust wir zu bewältigen haben. Außerdem liefern sie eine Erklärung auf die bohrende Frage nach dem „Warum?“ des Verlustes. Besonders bei der Bewältigung eines Suizids können Begebenheiten und Äußerungen aus der (näheren) Vergangenheit nachträglich eine ursächliche Bedeutung für das Geschehene zugeschrieben bekommen. Diese vermeintliche „Erklärung“ führt dann zu Schuldgefühlen, die die Verbindung zum/ zur Verstorbenen fortan bestimmt. Hilfreich wäre es in der Begleitung darauf hinzuweisen, dass dahinter ein schmerzliches Vermissen und vielleicht auch eine Angst vor Vergessen stehen kann.
Thomas Stephan, Schul- und Notfallseelsorger
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