Impuls: Die Geschichte von der
Perlmuschel
Eine wunderschöne Muschel schwamm im Meer. Um Nahrung aufzunehmen,
musste sie sich immer ein wenig öffnen. Dann spülten mit dem Wasser Plankton
oder andere kleine Pflanzenteile in die Muschel, von denen sie sich ernährte.
Eines Tages geriet dabei ein Sandkorn in die Muschel. Es verletzte ihr Inneres
mit seinen scharfen Kanten und tat ihr ziemlich weh. Die Muschel wehrte sich
verzweifelt gegen dieses Sandkorn und versuchte alles, um es wieder los zu werden.
Sie öffnete und schloss sich mit allen Kräften. Sie drehte und wand sich, aber das
Korn saß fest und ließ sich durch nichts hinausbewegen.
Die Wunde, die das Sandkorn ihr zugefügt hatte, schmerzte immer schlimmer.
Doch als die anderen Muscheln sie fragten: „Was hast du? Ist alles in Ordnung?“,
antwortete sie: „Danke, es ist alles in bester Ordnung, mir geht es sehr gut."
„Nur keine Schwäche zeigen“, dachte sie. „Ich muss tapfer sein und darf mir ja
nichts anmerken lassen! Sonst lachen die anderen mich aus und mögen mich
nicht mehr. Plötzlich musste sie an ihre Mutter denken.
„Stell dich nicht so an, und sei keine elende Heulsuse“, hatte sie immer gesagt,
und ihr Vater hatte hinzugefügt: „Du siehst schrecklich aus mit deinem verheulten
Gesicht. So mag dich bestimmt keiner!“
Und dann hatte sie tapfer aller Tränen hinuntergeschluckt.
Eines Tages hielt es die Muschel vor Schmerzen fast nicht mehr aus.
Da kam ein sehr alter Tintenfisch vorbeigeschwommen. Er sah sofort,
dass es der Muschel nicht gut ging.
„Hallo Muschel, bist du krank oder hast du Kummer?“, fragte der Tintenfisch
voller Anteilnahme.
Die Muschel antwortete wieder: „Nein, es geht mir prächtig!“
Aber vor lauter Schmerzen konnte sie kaum sprechen.
„Komm, lass dich mal in den Arm nehmen und ein wenig trösten!“
sagte der Tintenfisch und schlang einen seiner langen Arme vorsichtig
um die Muschel.
„Wir sind doch Freunde, und ich möchte dir gern helfen. Magst du mir nicht
von deinem Kummer erzählen?“
„Lachst du mich auch nicht aus? Und nennst du mich nicht Schwächling?“,
fragte die Muschel immer noch zögernd.
„Bestimmt nicht!“ entgegnete der Tintenfisch. „Du musst nicht immer stark und
tapfer sein und deinen Kummer in deiner harten Schale verschließen, sondern
du darfst zeigen, wie dir zumute ist.
Du darfst auch traurig sein und weinen.“ „Wirklich?“, fragte die Muschel immer
noch zweifelnd.
„Ich hatte solche Angst, ihr mögt mich dann alle nicht mehr.
Ach, tut das gut, dass ich jetzt über meinen Kummer reden kann!“
Und dann erzählte sie von dem Sandkorn, und dass es keine Möglichkeit mehr gibt,
es wieder los zu werden. Und dabei weinte sie all die Tränen, die sie so lange Zeit
krampfhaft zurückgehalten hatte.
Der Tintenfisch hörte ihr geduldig zu und streichelte sie behutsam. Die Muschel ließ
ihre Tränen fließen. Sie weinte und weinte, und ihre Tränen legten sich wie ein in allen
Farben des Regenbogens schillernder Mantel um das Sandkorn und hüllten es sanft ein.
Je mehr die Muschel weinte, desto mehr Tränen umschlossen das Sandkorn.
Am Ende war in der Muschel eine wunderschön schimmernde Perle gewachsen.
Und die Muschel konnte glücklich weiterleben.
aus: „Weil der Tod zum Leben gehört“ von Heinke Geiter
hospiz verlag
Kennen Sie das auch: nur keine Schwäche zeigen. Wie fühlt es sich an?
Wem konnten Sie schon ihr Herz ausschütten? Wie fühlte es sich an?
Malen Sie eine Perle in Ihr Lebenszeichenbuch, wenn Sie mögen.
Sie steht für alle geweinten Tränen.