Donnerstag, 10. Dezember 2020
"Wir bitten Betroffene, sich bei uns zu melden"
Hinweise auf systematischen Missbrauch in 60er- und 70er-Jahren im Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse - Interview mit Bischof Wiesemann im „Pilger“ löst Welle von Medienberichten aus
Das Sozialgericht Darmstadt geht davon aus, dass im Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse in den 60er- und 70er-Jahren Kinder systematisch schwer missbraucht wurden. Ein heute 63-jähriger Betroffener, der damals im Kinderheim lebte, beschuldigte den früheren Generalvikar und Offizial des Bistums Prälat Dr. Rudolf Motzenbäcker, ihn zwischen 1963 und 1975 in einer Vielzahl von Handlungen schwer missbraucht zu haben. Gestützt auf ein psychologisches und ein psychiatrisches Gutachten, hat das Sozialgericht Darmstadt den Betroffenen als glaubwürdig einschätzt. In einem Urteil vom Juni dieses Jahres hat das Gericht dem Betroffenen Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zuerkannt. Auch das Bistum Speyer glaubt dem Betroffenen, dass er als Kind in der Obhut des Speyerer Kinderheims schweren Missbrauch erlitten hat. Das Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse befand sich in Trägerschaft der Dompfarrei, geführt wurde es von Schwestern aus dem Orden der Niederbronner Schwestern. Das Bistum hat dem Betroffenen Leistungen in Anerkennung des Leids geleistet und Therapiekosten für ihn übernommen.
"Gläubige und Öffentlichkeit haben ein Recht darauf, über diesen Sachverhalt informiert zu werden"
In einem Interview mit der Kirchenzeitung „Der Pilger“ hatte der Speyerer Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann am Donnerstag publik gemacht, dass drei Betroffene unabhängig voneinander Vorwürfe gegen den 1998 verstorbenen Prälat Motzenbäcker erhoben haben. "Die Gläubigen im Bistum wie auch die Öffentlichkeit haben ein Anrecht darauf, über diesen Sachverhalt informiert zu werden. Auch könnte sein, dass es weitere Betroffene gibt, die sich bisher nicht getraut haben, mit den unabhängigen Missbrauchsbeauftragten des Bistums Kontakt aufzunehmen. Wir haben uns zum Öffentlichmachen der Vorwürfe gegen Prälat Motzenbäcker auch deshalb entschlossen, um diese Menschen zu ermutigen, sich ohne Angst zu melden", erklärt Bischof Wiesemann. Von Kindern aus dem ehemaligen Kinderheim liegen den unabhängigen Missbrauchsbeauftragten des Bistums vier Missbrauchsmeldungen vor. Zwei Betroffene haben Schwestern aus dem Orden als Missbrauchstäterinnen beschuldigt, zwei Betroffene geben an, durch Priester missbraucht worden zu sein.
Seit der Veröffentlichung des Interviews mit Bischof Wiesemann im "Pilger" haben sich drei Personen bei den unabhängigen Missbrauchsbeauftragten des Bistums neu gemeldet. Es handelt sich um Personen, die selbst nicht zu den Betroffenen gehören, die aber nah am Geschehen im Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse dran waren und daher weiterführende Hinweise geben können. Diesen Hinweisen werden die unabhängigen Missbrauchsbeauftragten weiter nachgehen.
Bistum richtet Betroffenenbeirat und unabhängige Aufarbeitungskommission ein
Gegenüber der Kirchenzeitung "Der Pilger" berichtet Bischof Wiesemann, dass ihm in Gesprächen mit Betroffenen nach und nach „die oft dramatischen Auswirkungen und die Dimension des erlittenen Leids und Unrechts immer tiefer aufgegangen“ sind. Gleichzeitig unterstreicht er den Willen des Bistums Speyer zur restlosen Aufklärung: „Nur wenn wir uns den dunklen Seiten der Vergangenheit ehrlich stellen, sind wir Kirche im Sinne Jesu: eine Kirche, die Unrecht – auch in den eigenen Reihen - beim Namen nennt und sich konsequent auf die Seite der Betroffenen stellt.“
Das Bistum richte aktuell einen Betroffenenbeirat und eine unabhängige Aufarbeitungskommission ein. „Betroffene sollen eine laute und starke Stimme im Bistum bekommen“, so der Bischof. Die unabhängige Aufarbeitungskommission werde die Missbrauchsfälle in der Diözese noch einmal genau anschauen, „auch hinsichtlich der Frage, ob auf Missbrauchsvorwürfe oder Missbrauchsfälle von Seiten der Diözese verantwortlich reagiert wurde“. Bisher habe die juristische und seelsorgliche Aufarbeitung im Vordergrund gestanden. „Jetzt kommt es darauf an, das Ganze in den Blick zu nehmen und die systemischen Zusammenhänge zu analysieren“, so der Bischof.
Kontakt zu den unabhängigen Missbrauchsbeauftragten des Bistums Speyer:
Interview des „Pilger“ mit Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann:
Dokumentation der Maßnahmen des Bistums Speyer zur Aufarbeitung und Prävention des sexuellen Missbrauchs:
https://www.bistum-speyer.de/rat-und-hilfe/hilfe-und-praevention-von-missbrauch/dokumentation/
Stellungnahme des BDKJ-Diözesanverbandes am 11.12.2020
Stellungnahme des kfd-Diözesanverbandes am 14.12.2020
Stellungnahme des Katholikenrates im Bistum am 14.12.2020